Design Sprints – Design Thinking mit Ergebnissen
Design Sprints gelten als sinnvolle Lösung für Nutzer- oder Businessprobleme. Bei der von Google Ventures entwickelten Methode durchläuft ein Konzept innerhalb von nur einer Woche einen kompletten Entwicklungszyklus – inklusive Rapid-Prototyping und Nutzertests. So lassen sich Ideen zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit echten Nutzern testen und Fehlinvestitionen vermeiden. Wie das konkret aussehen kann – und welche weiteren Vorteile das mit sich bringt –, darüber sprechen Philipp Melms, Innovation Manager der Versicherungskammer Bayern und Christina Gutenberg, UX/IT Consultant bei wirDesign.
Design Sprint – In einer Woche zum Prototyp
Ob es um die Entwicklung einer App oder die Etablierung eines neuen Produkts oder Kundenservices geht – mit Design Sprints lässt sich auf extrem kurzem Weg ein Lösungsansatz erarbeiten, prototypisch umsetzen und in der Zielgruppe testen. Bei dieser Methode arbeitet ein kleines Team fokussiert und unter strikter Zeitvorgabe. Die Herangehensweise ähnelt dem Design Thinking und wurde von Jake Knapp bei Google Ventures entwickelt. Ihr Ziel: Das Konzept soll in einer Woche einen kompletten Entwicklungszyklus durchlaufen, inklusive Prototypenentwicklung und Tests.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Beteiligten gelangen in kürzester Zeit zu neuen Ideen und können Entscheidungen anhand von qualitativem Kundenfeedback treffen.
Philipp Melms, Innovation Manager bei go – der Innovations-Einheit unseres Kunden Versicherungskammer Bayern – und Christina Gutenberg, UX/IT Consultant bei wirDesign haben bereits mehrfach derartige Design Sprints realisiert.
Was hat die Innovations-Einheit der Versicherungskammer Bayern dazu motiviert, Design Sprints als Methode zu nutzen?
Philipp Melms:
Die Versicherungskammer Bayern ist einer der größten deutschen Versicherer und Teil der Sparkassen-Finanzgruppe. Im Bereich Innovationsmanagement gehen wir ständig neue Wege, um uns weiterzuentwickeln und um das gesamte Thema Innovation bei uns im Haus greifbarer zu machen. Hier liegt unser Fokus auf Innovationsmethoden. Wir möchten unsere Leute in die Lage versetzen, neue und kreative Möglichkeiten zu nutzen, um in ihrem Arbeitsalltag mehr zu erreichen. Dazu wollen wir ihnen als Erstes die Angst vor Innovationen nehmen und mögliche Bedenken zerstreuen.
Was versteht man denn unter Innovationen im Versicherungsbereich?
Philipp Melms:
Da gibt es eine Vielzahl größerer und kleinerer Projekte in unseren Geschäftsbereichen. Das können Corporate Start-ups sein, die wir gründen wollen. Oder auch Werkzeuge, die wir ausprobieren. Nehmen wir das Thema Marketing Automation: Hier testen wir Tools zur Digitalisierung unserer Kundenprozesse. Dazu gehören neue Kundenschnittstellen, die wir im Versicherungskontext nutzen, um unsere Kunden auf neuen Wegen anzusprechen oder uns neue Kundengruppen zu erschließen.
Christina Gutenberg:
Gerade die Erschließung neuer Kundengruppen ist ein Innovationsthema an sich. Versicherungen im Allgemeinen haben das Problem, dass ihre Bestandskunden oft ein hohes Durchschnittsalter haben. Alle fragen sich: Wie kommt man an die Generation Z ran? Für die ist das Thema Versicherung nicht relevant. Aber genau in dieser Phase möchte man als Versicherung natürlich in den Köpfen der jungen Zielgruppen landen. Dazu brauchen wir innovative Ideen. Die Tests am Ende der Sprints helfen uns dabei, direkt mit Nutzer*innen in diesem Alter zu sprechen und ein Gefühl dafür zu bekommen, ob unsere Ideen Anklang finden. Aber auch intern hat dieses Thema Sprengkraft. Denn hier stellt sich die Frage, wie man seine Belegschaft auf diese neuen Möglichkeiten aufmerksam macht und sie motiviert, diese auch zu nutzen.
Philipp Melms:
Junge Zielgruppen zu erreichen, ist eine Herausforderung. Versicherung ist kein sexy Thema wie neue Sneaker oder eine Fitness-App.
An Versicherung denkst du erst, wenn du sie brauchst. Hier stellt sich die Frage: Wie entwickeln oder optimieren wir Themen und Schnittstellen, um eine junge Zielgruppe anzusprechen, die gerade eine schwierige Zeit mit vielen Unsicherheiten erlebt? Über den klassischen Weg ist das schwierig, hier brauchen wir neue Ideen.
Zum Beispiel über Design Sprints oder Workshops, die auch mal mehrere Tage dauern. Auf diese Weise können wir Teams dabei begleiten, in einem strukturierten Prozess selbst neue Ideen zu entwickeln und diese am Kunden zu testen.
Wie laufen Innovationsprozesse intern?
Philipp Melms:
Ganz unterschiedlich. Bei uns gibt es Key Accounts und das Innovationsmanagement. Die kümmern sich um Ressorts wie Marketing, Vertrieb, HR oder IT-Operations und um die Geschäftsfelder wie zum Beispiel Kranken- und Lebensversicherung oder auch das Finanzgeschäft. Mit denen haben wir regelmäßige Austauschrunden, in denen wir projektbezogen Ideen anschieben und Impulse geben. Ein anderer Weg sind konzerneigene Meet-ups zum Thema Innovation. Und wir halten immer nach Trends Ausschau. Also, wir fragen uns auch ohne konkrete Aufgabenstellung, wie wir im Bereich Marke im digitalen Raum anders auftreten können. Dazu holen wir uns externe Speaker ins Haus, um herauszufinden, was Neues am Markt passiert. Und leiten dann daraus ab, was wir wie als Nächstes anschieben möchten.
Wie ist das Feedback auf Design Sprints im Haus?
Philipp Melms:
Wirklich enorm positiv! Alle sind zufrieden und viele sind begeistert, weil so eine »Cool, jetzt kann es losgehen«-Stimmung entsteht. Das liegt auch daran, dass in Design Sprints sehr schnell Lösungen entstehen. Lösungen, für die man unter regulären Umständen manchmal Monate gebraucht hätte. Für viele unserer Teammitglieder ist es das erste Mal, dass sie mitbekommen, wie ein Prototyp innerhalb kürzester Zeit – manchmal acht bis zehn Stunden – aufgebaut wird. Sie sind erstaunt, wie schnell das geht und was da Professionelles herauskommt. Das spricht sich im Haus herum.
Wie setzt man einen Design Sprint um?
Christina Gutenberg:
Wir orientieren uns da am klassischen Design Sprint, haben ihn aber an unsere Bedürfnisse angepasst. Grundsätzlich planen wir mit einer Dauer von vier bis fünf Tagen in einer Gruppe von bis zu zehn Personen. Zwei Tage arbeiten wir gemeinsam an Ideen und Konzepten und priorisieren. Am dritten Tag ziehen wir uns als Agentur zurück und arbeiten am Prototyp. Das ist meist eine App oder eine Microsite, die das Konzept für ein neues Produkt oder einen neuen Service vorstellt. Diesen Prototypen vertesten wir am vierten bis fünften Tag. Die Testpersonen bekommen Aufgaben, klicken sich durch den Prototyp und geben uns direkt Feedback. Zum Beispiel, ob sie die Navigation verstehen, ob sie irgendwo hängenbleiben oder wie sie das Produkt oder den Service generell bewerten.
Die schnellen und guten Ergebnisse aus Design Sprints schaffen echte Aha-Momente.
Philipp Melms:
Das sind meistens echte Aha-Momente. Denn viele denken, sie sind seit Jahren dabei und kennen alles. Aber wenn sie dann mal bei einem Live-Test dabei sind, öffnet ihnen das schon die Augen. Nicht nur im Hinblick auf das direkte Feedback der Testpersonen, sondern auch in Bezug auf die ungewohnte Arbeitsweise. Wenn wir den Teams vorab die Innovationsprozesse und Methoden beschreiben, reagieren viele zurückhaltend, einige skeptisch. Aber wenn wir dann nach einem knappen Ideenprozess ohne große Marktforschung loslegen und so schnell bei Umsetzung und Feedback landen – dann ernten wir dafür oft ungläubiges Staunen. Im sehr positiven Sinne. Selbst zu erleben, wie man so schnell in eine ergiebige Entwicklungsschleife kommen kann, ist eine wertvolle Erfahrung für alle Beteiligten.
Warum ist es sinnvoll, eine Agentur mit in den Design Sprint hereinzunehmen?
Philipp Melms:
Für uns spielt die gestalterische Qualität des Prototyps eine große Rolle. Denn je durchdachter und ansprechender sie schon in der Testphase ist, desto realistischer laufen die Tests und desto schneller können wir mit einem guten Ergebnis in die Umsetzung gehen. Wir haben aber keine eigenen Designer im Haus – deshalb setzen wir auf Partner, die uns und unsere Bedürfnisse gut verstehen und diese optisch übersetzen können.
Gibt es auch Prototypen oder Projekte, bei denen man die Agentur außen vor lässt?
Philipp Melms:
Ich persönlich versuche, keinen Design Sprint ohne Agentur zu machen. Eine Ausnahme ist es, wenn es zunächst nur um die Entwicklung von Ideen geht. Da kann man auch klassisch mit Stift und Papier loslegen. Aber wenn ich die Qualität haben will – speziell beim Prototyping –, dann spare ich mir die Zeit und auch den Erklärungsaufwand bei der Präsentation. Die Frage ist immer: Für wen ist das gedacht? Muss das glossy sein oder will sich das jemand nur kurz mal anschauen?
Warum stellt die Versicherungskammer Bayern nicht einfach selbst Designer ein?
Philipp Melms:
Ich glaube einfach, im Design- und UX-Umfeld bewegen sich Agenturen viel stärker am Puls der Zeit, weil sie Projekte für die unterschiedlichsten Anforderungen entwickeln. Würden wir eine eigene Design-Unit aufbauen, wäre diese nach kürzester Zeit nur noch auf Aufgaben im Versicherungsumfeld eingeschossen und würde beginnen, ihre interne Sicht zu zementieren. Wir wollen stattdessen Impulse von Leuten, die »draußen« unterwegs sind.
Christina Gutenberg:
Das freut uns natürlich; wir sehen deine Aussage allerdings auch belegt. Es gibt bei uns eine Methode, die nennen wir »Lightning-Demos«. Da schauen wir uns gemeinsam mit unseren Kundinnen und Kunden Beispiele von Unternehmen an, die ähnliche Aufgaben bei der Entwicklung bereits umgesetzt haben. Dabei fällt uns auf, dass unsere Kundinnen und Kunden nahezu ausschließlich Beispiele aus ihrer Branche mitbringen; während wir eben auch Cases komplett anderer Marktteilnehmer vorstellen. Antragsstrecken gibt es ja nicht nur bei Versicherungen, sondern auch bei Banken, Automobilherstellern, Stromversorgern etc.
Wann lohnt sich ein Design Sprint?
Philipp Melms:
Wichtig ist, dass du nicht komplett offen in die Entwicklung gehst, sondern eine oder mehrere konkrete Herausforderungen hast. Bleiben wir beim Beispiel der Entwicklung einer Antragsstrecke: Ist von vornherein klar, welches Problem mit einer Neugestaltung gelöst werden soll, ist ein Design Sprint die ideale Methode. Entwickelt man aber quasi auf der grünen Wiese, dann baut man eine Vielzahl von Low-Fidelity-Prototypen und entscheidet dann erst.
Ihr stellt eure Teams für Design Sprints interdisziplinär zusammen. Warum?
Philipp Melms:
Eine Innovationsmethode wird umso greifbarer, je mehr man sich vernetzt. Deshalb laden wir immer Leute aus den unterschiedlichen Geschäftsfeldern zu den Design Sprints ein.
Am Ende des Tages geht es um Personen, die mit neuen Impulsen den Sprint voranbringen.
Das hilft auch über den Sprint hinaus: Plötzlich kennst du jemand Neues aus dem Unternehmen, den du vorher noch nie getroffen hast. Das ist spannend! Und mittlerweile können wir unsere Design Sprints auch remote umsetzen und dabei spontan Fachleute aus Berlin oder Frankfurt dazuschalten – ohne Reisekosten oder Unterbringung.
Woher bekommt man die Testpersonen?
Philipp Melms:
Das war bei uns zunächst ein Riesenthema, denn mal eben fünf bis acht Personen auf der Straße für die Testing-Phase zu akquirieren, ist ein enormer Aufwand und bringt zusätzliche Kosten mit sich. Aber der Aufwand lohnt sich! Und man glaubt gar nicht, wie viele Leute bereit sind, auch kostenlos mitzumachen. Mittlerweile haben wir hier ein gutes Netzwerk, nutzen unsere Kundendatenbank und binden unser Umfeld aus Familie und Freunden mit ein. Hauptsache, die Menschen kommen nicht direkt aus dem Branchenumfeld. Natürlich wissen wir, dass es auch professionelle Testing-Communitys gibt. Aber ich denke, diese sollte man erst in einer späteren Phase des Gesamtprojekts in Betracht ziehen.
Christina Gutenberg:
Wir fragen bei wirDesign auch unsere Werksstudenten oder deren Freunde, die neuen Themen gegenüber meist sehr aufgeschlossen sind. Außerdem spielt die coronabedingte technologische Entwicklung ebenfalls eine positive Rolle: Heute muss man keine separaten Marktforschungsräume mehr vorhalten, sondern kann mit den normalen Conferencing-Tools vieles abdecken. Wir haben sowohl junge Menschen als auch über 80-Jährige remote in unsere Testing-Sessions integriert – und es hat außerordentlich gut funktioniert.
Was sind die übergreifenden Learnings?
Philipp Melms:
Ich erinnere mich sehr gern an unseren ersten Sprint zurück. Da waren wir zwar nur Teilnehmer, haben aber danach den Prozess weiter aufgebaut und das Projekt letztendlich realisiert. Das war so toll, dass wir in der Folge versucht haben, zu jeglichen Themen Design Sprints zu machen. Das sollte man nicht tun. Man muss schon schauen, wofür sich die Vorgehensweise auch lohnt. Für viele Herausforderungen, die man lösen möchte, lassen sich auch normale Wege finden, um eine neue Entwicklung anzuschieben.
Fehlinvestitionen vermeiden und Enttäuschungen ersparen.
Christina Gutenberg:
Ich denke, Design Sprints eignen sich sehr gut, um Fehlinvestitionen zu vermeiden. Noch vor nicht allzu langer Zeit standen bei der Anwendungsentwicklung, z. B. für Apps oder Websites, umfängliche Konzeptarbeiten, Layout-Studien, Lastenhefte und technische Grundlagenforschung im Fokus. Dadurch sind die Tests weit nach hinten gerutscht. Waren die Ergebnisse dann nicht gut, wurde es teuer. Manches Projekt wurde sogar gekippt. Mit Design Sprints können wir uns und unseren Kundinnen und Kunden viel Zeit, Geld und vor allen Dingen späte Enttäuschungen ersparen.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
Wollen wir uns dazu austauschen?
Susanne van Dyk
Business Development